Grüße aus Murmansk vom 23.06.2001
Viele Grüße aus Murmansk, der mit 450.000 Einwohnern größten Stadt nördlich des Polarkreises. Der Fahrradtachometer zeigt 3008 geradelte km seit Fürth und ich fühle mich gesundheitlich besser als beim Start. In den Sommermonaten scheint hier im Norden die Sonne täglich 24 Stunden lang und die Temperaturen liegen oft höher als in Deutschland. Wegen dem kontinentalen Klima regnet es auch nur sehr selten. Trotzdem ist alles satt grün, weil die viele Feuchtigkeit, die sich in den langen kalten Wintern in Form von Eis und Schnee angesammelt hatte, jetzt alles durchdringt - ähnlich wie bei uns nach der Schneeschmelze im Frühjahr. Entsprechend war die weite, ebene Tundra auf den letzten 500 km südlich der Halbinsel Kola sumpfig und oft auch überschwemmt. Ein richtiger Wald kann sich da nicht mehr entwickeln, nur kleine verkrüppelte Bäumchen, die nach einigen Jahren absterben und dann als Baumleichen im Wasser stehen. Die Straße führt über hunderte von km auf einem aufgeschütteten Kiesdamm durch die Tundra. Erst auf der Halbinsel Kola gibt es wieder Berge (wie bei uns im Mittelgebirge), die mit niedrigem dichtem Wald bedeckt sind. Und in manchen Tälern gibt es hier wieder Wiesen und Äcker, ähnlich wie bei uns im hessischen Bergland.
Ca. 1.800 km Russland habe ich nun schon hinter mir. Was soll ich Euch da alles berichten? Vielleicht von dem Zustand der
Fernstraßen, die inzwischen zwar alle asphaltiert sind, i.d.R. aber nur mit sehr grobem Asphalt und die auf vielen Strecken mit tiefen Schlaglöchern übersäht sind. Der Autoverkehr hat in den letzten 10 Jahren offensichtlich so stark zugenommen, dass es der Staat (der hier nur wenig Steuereinnahmen hat) nicht mehr schafft, den Straßenbelag wie bei uns einigermaßen rechtzeitig zu erneuern.
Ansonsten gab es auf dem Weg hierher mehrere kleine und mittlere Städte. Viele davon bestehen nur aus einer Ansammlung sehr heruntergekommener Plattenbauten mit vielen Arbeitslosen. Am Rand dieser Problemstädt findet man dann immer eine stillgelegte verrottenden Industrieanlage, von der diese Kleinstädte früher lebten, sonst nichts. Diese zahlreichen ehemaligen Industriestädtchen sind heute soziale Zeitbomben und die EU täte gut daran mitzuhelfen, diese Menschen wieder in Arbeit und Brot zu bringen.
Das Schulsystem ist dem deutschen sehr ähnlich (einschließlich dreijähriger dualer Berufsausbildung mit ein bis zwei Tagen Berufsschule pro Woche) und einiges, was bei uns an Reformen im Berufsschulwesen geplant wird, ist hier schon realisiert, oft mit enttäuschendem Ergebnis. (Vielleicht könnten wir uns mit mehr Erfahrungsaustausch manchen Irrweg ersparen.) Für jeden Berufsschüler hier ist eine Wochenstunde Englischunterricht Pflicht. Gut so! Mangels Anwendungsmöglichkeit ist das Interesse der Schüler daran aber sehr gering und das Ergebnis entsprechend schlecht.
Ich glaube, dass es aus verschiedenen Gründen sinnvoll wäre, vor allem zwischen russischen und deutschen Berufsschulen Kontakte zu knüpfen. Auf lange Sicht würde sich das auch volkswirtschaftlich für beide Seiten rechnen. Die Lehrer hier sind, wie ich feststellen konnte, engagiert und gut ausgebildet. Ihre Bezahlung ist aber so schlecht, dass sie jetzt im kurzen Sommer die Wochenende und Ferien in Oma's Häuschen auf dem Land verbringen, wo sie eifrig ihre Schrebergärten bewirtschaften, um Vorräte für den Winter einkochen zu können. („Früher hatten wir Geld, aber es gab nichts zu kaufen. Jetzt kann man fast alles kaufen, aber niemand von den Studierten hat noch Geld.“)Außerhalb der Städte und Plattenhausansiedlungen gibt es hin und wieder Dörfer mit vielen kleinen, einfachen aber sauberen Holzhäusern und Gemüsegärten drumherum. Zwischen den Siedlungen fährt man in Karelien durch riesige Waldgebiete und weiter im Norden durch die Tundra. Die Natur ist weitgehend unberührt und sehr beeindruckend. Teilweise bin ich 170 km gefahren, bis wieder ein Parkplatz mit Imbissbude, eine Tankstelle oder eine Ansiedlung mit Versorgungsmöglichkeit auftauchte. Auf der Halbinsel Kola mit ihren Bergen, Wäldern und Seen wurde die Natur abwechslungsreicher und dadurch noch reizvoller.
Im Übrigen habe ich auf den ganzen 1.600 km hinter St.Petersburg genau zwei Autos mit deutschen Nummernschildern gesehen. Sie tauchten gemeinsam auf und hielten sofort an als sie mich sahen. Was dann herausquoll war eine vielköpfige Zigeunerfamilie, die sich als Jugoslawen ausgaben und relativ gut deutsch sprachen. Sie versuchten hartnäckig, mir angeblich echte Goldringe zu verkaufen. Wie ich später beobachtete, versuchten sie das auch bei russischen Autofahrern, die sie auf offener Strecke anhielten. Von der angeblichen Russen-Mafia habe ich dagegen nirgends etwas gemerkt. Und die Leute die ich diesbezüglich ansprechen konnte, wissen davon auch nur durch die vielen Mafia-Filme, die in Russland tagtäglich im Fernsehen abgespielt werden, so wie bei uns die Krimiserien. Natürlich fragt man sich in der russischen Bevölkerung schon, wo das Geld bleibt, das aus dem Export von Erdöl und Erdgas eigentlich da sein müsste. Richtig zornig werden die Leute aber erst, wenn die Sprache darauf kommt, dass gut verdienende Selbständige kaum Steuern zahlen (weil oft bis zu 90% des Umsatzes nicht in den Büchern erscheint), während den Arbeitnehmern von ihrem Hungerlohn (100 bis höchstens 300 DM im Monat) noch Steuern abgezogen werden.Und wie ist das mit der Diebstahlgefahr? Es gibt sehr viele arme Leute hier und das soziale Umfeld in den Platten-Siedlungen ist wohl wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht unproblematisch. Alle haben deshalb große Angst vor Diebstahl und alle reden davon. Obwohl ich als Alleinreisender mein Fahrrad und Gepäck nicht immer bewachen konnte, ist mir in den vier Wochen Russland aber lediglich eine Flasche Mineralwasser vom Fahrrad gestohlen worden, als ich in einem Laden zum Einkaufen war. (Später beobachtete ich dort ein heruntergekommenes Subjekt, das Flaschen einsammelte, um anschließend mit dem eingelösten Pfand Bier zu kaufen. So etwas gibt’s in Deutschland auch.) Ich glaube man kann mit dem Diebstahlrisiko leben, wenn man sich in acht nimmt.